Exoskelett im Handwerk – Produktivität statt Muskelkater

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Überkopfarbeit mit Exoskelett

© Ottobock SE & Co. KGaA

Im Handwerk lassen sich viele Arbeiten nur in Zwangspositionen verrichten. Das Arbeiten über Kopf zum Beispiel gehört zu den schwersten Tätigkeiten. Die Belastungen für den Körper sind extrem. Muskel-Skelett-Erkrankungen zählen zu den häufigsten Ursachen für krankheitsbedingte Ausfallzeiten und Arbeitsunfähigkeit. Letztlich leidet darunter dann nicht nur der Mitarbeiter, sondern auch die Produktivität im Unternehmen. Exoskelette schaffen gesündere Arbeitsplätze, indem sie die Bewegungen des Trägers bis zu rund 60 Prozent entlasten. Intelligente KI-basierte Exoskelette sind sogar in der Lage, sich mit Geräten zu vernetzen.

 

Was sind Exoskelette?

Exoskelette sind tragbare Anzüge, die den Nutzer bei körperlich anstrengenden bzw. bei  Fehlbelastungen und beim Heben und Tragen unterstützen. Man unterscheidet zwischen aktiven Exoskeletten, die mithilfe einer Stromquelle aktiviert werden, und passiven Exoskeletten, die die aufgewendete Energie zum Beispiel mittels Federung umverteilt. In der Regel handelt es sich um leichte, am Körper anliegende Anzüge bzw. Geräte für Rumpf, Schultern, Arme, Becken, Beine oder Finger. Softe Exoskelette dienen in erster Linie zur Körperstabilisierung. Ziel eines Exoskeletts ist nicht die 100-prozentige Entlastung, denn diese würde einen Muskelabbau bedeuten. Ziel ist eine gesunde Entlastung.

 

Exoskelette greifen Handwerkern unter die Arme

Der Alltag eines Handwerkers ist oft ein Knochenjob. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind Muskel-Skelett-Erkrankungen die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Ausfallzeiten und Arbeitsunfähigkeit in Deutschland.* Im Jahr 2019 gingen mehr als ein Fünftel der Fehlzeiten auf Muskel- und Skelett-Erkrankungen (22,4 %) zurück**. Auch mit zunehmendem Alter wird körperliche Arbeit immer mehr zur Belastung.

Deshalb: Auf ergonomische Lösungen wie Exoskelette zu setzen, hat viele Vorteile:

  • Entlastung bei Über-Kopf-Arbeiten

  • Erleichterung bei schwerem Heben und Tragen

  • Unterstützung beim Bücken, Knien und Sitzen

  • Vermeiden von Krankheiten und Verletzungen

  • Weniger Krankmeldungen

  • Verringerung der Fehlerquote, die oft durch Erschöpfung erhöht ist

  • Bessere Arbeitsqualität bzw. optimale Präzision durch geringere Ermüdung der Arme

  • Steigerung von Ausdauer und Leistungsfähigkeit

  • Belastungen bis ins hohe Alter möglich

  • Größenverstellbare Anzüge ermöglichen Einsatz für alle Mitarbeiter

  • Steigerung der Attraktivität von Arbeitsplätzen

  • Mitarbeiter halten und Fachkräfte gewinnen

  • Mehr weibliche Fachkräfte fürs Handwerk gewinnen durch Entlastung bei anstrengenden körperlichen Tätigkeiten

 

Welche Arten von Exoskeletten gibt es?

Man unterscheidet drei Typen von Exoskeletten: aktive, passive und softe. Bei aktiven Exoskeletten führt ein Motor Bewegungen aus bzw. unterstützt den Träger in der Ausführung. Passive Exoskelette unterstützen und entlasten Bewegungsabläufe mechanisch, wie zum Beispiel Feder- oder Seilzugsysteme. Bei soften Ausführungen geht es in erster Linie um Bewegungsunterstützung und körperstabilisierende Funktionen. Letztere werden bereits verstärkt im Bauhandwerk eingesetzt. Bei feinmotorischen Arbeiten werden häufig pneumatische Handschuhe eingesetzt, um die Bewegung der Finger bzw. der Handgelenke zu schonen.

 

Beispiele für Exoskelette

Die Firma Ottobock hat mit Paexo Thumb das kleinste Exoskelett der Welt entwickelt. Es entlastet Daumenendgelenke und Sattelgelenke bei bestimmten Tätigkeiten, wie zum Beispiel beim Klipsen, Stecken und Stopfen in der Montage.

Konstruktionen, die ein Sitzen ohne Stuhl ermöglichen, sind – vor allem für Langsteher – ebenfalls hilfreich (Noonee). Mit dem „Chairless Chair“ lässt sich fließend zwischen Sitzen, Stehen und Gehen wechseln, was zum Beispiel bei Reparaturarbeiten häufig der Fall ist.

Eine weitere Variante von Exoskeletten dient nicht nur der Vorbeugung von Gesundheitsschäden bei der Arbeit, sondern sie kann auch im Bereich Arbeitssicherheit wertvolle Daten liefern. Das ExoJacket vom Fraunhofer IPA erfasst Bewegungen des Trägers über Sensoren, analysiert die gewonnenen Daten und warnt anschließend vor unergonomischen Bewegungen bei der Arbeit. Auch ErgoJack wirkt dem Ausfallrisiko von Arbeitskräften entgegen, das Erkrankungen durch körperlich belastende Tätigkeiten begünstigt.

 

Exoskelette im Handwerk

Am gängigsten sind im Handwerk die verschiedenen Anzugausführungen, die das Heben, Tragen und Arbeiten in Zwangspositionen, wie zum Beispiel Über-Kopf-Arbeiten, unterstützen.

Das Exoskelett Paexo Shoulder des Medizintechnikunternehmens Ottobock ist ein passives Gerät. Es funktioniert somit ohne externe Energiezufuhr. Das erhöht die Flexibilität im Einsatz, beispielsweise auf Baustellen. Dieses Exoskelett entlastet speziell den Schulterbereich bei Über-Kopf-Arbeiten, etwa am Bau. Dafür wird das Gewicht von Armen und Werkzeugen über Armschalen mit einer mechanischen Seilzugkonstruktion auf die Hüfte umgelenkt. Die so erreichte Entlastung beträgt nach Herstellerangaben bis zu einem Gewicht von rund 10 kg etwa 50 Prozent.

Das Exoskelett Paexo Back funktioniert nach einem biomechanischen Prinzip: „Die Last wird wie bei einem Rucksack an der Schulter abgenommen und mithilfe der Stützstruktur des Exoskeletts in die Oberschenkel umgeleitet. Der Energiespeicher nimmt beim Beugen Kraft auf und gibt sie beim Heben wieder ab. Dies führt zu einer deutlichen Entlastung des unteren Rückens von bis zu 25 Kilogramm. Das Herz des Systems ist die rein mechanische Steuerung auf Hüfthöhe – eine technologische Weltneuheit. Diese kann zwischen Beugen und Gehen unterscheiden und schaltet sich beim Gehen automatisch ab, um so den vollen Bewegungsfreiraum zu gewährleisten. Die Unterstützungskraft lässt sich am Drehknopf stufenlos auf die Belastung unterschiedlicher Arbeitsschritte einstellen.“*** Nutzer beschreiben dieses Gefühl oft, als würden die Arme schweben.

 

Intelligente Exoskelette sind vernetzt

Die digitale Vernetzung eines Exoskeletts mit dem Internet der Dinge (IoT) ist eine Weiterentwicklung der Exoskelett-Technologie. Werden die tragbaren Anwendungen mit Geräten verknüpft, kann das je nach Einsatzbereich bestimmte Funktionen auslösen (z. B. das Öffnen einer Tür), sobald der Mitarbeiter sich einem Objekt nähert.  Auch die Erfassung von Zeiten und Tätigkeiten ist so möglich. Diese Daten können für rein statistische Zwecke, zur Analyse der geleisteten Arbeit, für die nachweisbare Abrechnung von Tätigkeiten oder für intelligente Steuerungen benutzt werden.

Da intelligente Exoskelette auf KI basieren, können in Zukunft Exoskelette lernfähig werden und statistische Daten im Zusammenhang mit dem Träger erheben, weiterverarbeiten und analysieren, um Abläufe zu optimieren und sich an die Bedürfnisse ihrer Nutzer anzupassen. Der Hersteller German Bionic Systems hat mit CRAY X nach eigenen Angaben das weltweit einzige vollständig vernetzte Exoskelett-System für den industriellen Einsatz entwickelt. Auch Bioservo, eine softwaregesteuerte pneumatische Greifhilfe ist ein aktuelles Beispiel für intelligente IoT-fähige Exoskelette.

Der Kraftanzug CRAY X liefert Echtzeitdaten, aus denen sich wertvolle KPIs zu den real erbrachten Arbeitsleistungen ableiten lassen, wie es auf der Website von German Bionic heißt. „Mit einem neuen Ergonomie-Frühwarnsystem können Unternehmen die Sicherheit von Hebevorgängen an manuellen Arbeitsplätzen individuell und intelligent verfolgen und optimieren. Die cloudbasierte Software setzt KI und maschinelles Lernen ein, um gesundheitliche Risiken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu identifizieren, Sicherheitsvorkehrungen zu definieren und dadurch Arbeitsprozesse zu verbessern. Damit maximiert sie nachhaltig den Arbeitsschutz und gewährleistet zugleich optimale Geschäftsprozesse und höchste Effektivität.“**** Mit dem cloudbasierten System SMART SAFETY COMPANION bietet Cray X ergonomischen Schutz, indem es als intelligentes Echtzeit-Frühwarnsystem individuelle Fehlhaltungen und falschen Hebetechniken bei manuellen Arbeiten vorbeugt, vor Übermüdung warnt und dadurch überlastungsbedingte Fehler und Verletzungen verhindert. Ungünstige Belastungen, kritische Wiederholungen, riskante Bewegungen und schlechte Körperhaltungen werden erkannt und lösen Warnungen und Pausenempfehlungen aus, so der Hersteller.

 

Wo kann man Exoskelette im Handwerk einsetzen?

Exoskelette eignen sich überall dort, wo Über-Kopf-Arbeiten und andere körperliche anstrengende Tätigkeiten Gesundheit und Produktivität einschränken. Das ist besonders der Fall im Bauhandwerk, SHK, Heizungs-, Elektro-, Rohrleitungsbau, Aus- und Trockenbau, Malerhandwerk, beim Hochbau, im Kfz-Bereich und anderen Sektoren.

Typische Tätigkeiten, bei denen der Einsatz von Exoskeletten vorteilhaft ist:

  • Verspachteln von Raumdecken

  • Verkabelungen unter der Decke

  • Arbeiten mit Langhalsschleifer

  • Malerarbeiten

  • Reparaturarbeiten im Knien, Liegen, Sitzen, Stehen (bzw. bei häufigem Wechsel der Positionen)

  • Hebehilfen im Lager

  • Installieren von Rohren, Elektrik, Armaturen, Leitungen

  • Heben der Bohrmaschine

  • Tragen und Heben von schweren Fliesen, Mauersteinen, Kisten und Kartons auf der Baustelle und im Lager

  • Kommissionierung, Qualitätskontrolle und Verladung im Lager

 

Fazit

Exoskelette könnten schon bald zum Handwerksalltag gehören. Überalterung der Bevölkerung, längere Lebensarbeitszeiten und zunehmende Krankheiten des Muskel- und Skelettapparates durch anstrengende körperliche Tätigkeiten rücken die am Körper tragbaren Assistenten in die erste Reihe der wichtigen Lösungen. Sie als Allheilmittel zu sehen wäre dennoch zu weit gegriffen. Wichtig ist, das richtige Produkt für die unterschiedlichen Einsatzbereiche zu ermitteln. Ein korrekter Gebrauch muss in jedem Fall durch gründliche Schulungen gewährleistet sein, um Verletzungen zu vermeiden. Gerade beim Thema Fluchtwege ist darauf zu achten, dass sich der Körperumfang mit einem Exoskelett vergrößert und dadurch mehr Raum benötigt wird. Nicht immer braucht es für körperliche Erleichterungen ein Exoskelett. Manchmal genügt es schon, Anpassungen am Arbeitsplatz vorzunehmen. Das Potenzial für den Einsatz von Exoskeletten ist jedoch riesig und gerade im Handwerk durchaus realistisch.

Weitere Hintergrundinformationen rund um die Nutzung von Exoskeletten finden Sie in diesem Online-Fragenkatalog des Instituts für Arbeitsschutz der DGUV (IFA).


Quellen:

*  https://www.baua.de/EN/Service/Publications/Report/F2255.html

** Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO): Krankheitsbedingte Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2019. Markus Meyer, Stefanie Wiegand und Antje Schenkel

*** Quelle: https://paexo.com/paexo-back/

**** Quelle: www.germanbionic.com

 

(Erstveröffentlichung: forum handwerk digital, 11/2021 und 08/2019, bearbeitet)